Keine Haftung des Heimbetreibers für Fenstersturz einer behinderten Person bei fehlenden Anhaltspunkten zur Selbstgefährdung

Stürzt ein behinderter Mensch im Heim aus einem Fenster, so haftet der Heimbetreiber dann nicht für den Unfall, wenn für ihn keine Anhaltspunkte einer Selbstgefährdung bestanden. Zudem muss bei der Ergreifung von Sicherheitsmaßnahmen stets das Recht der behinderten Menschen auf weitestmöglicher Autonomie beachtet werden. Dies geht aus einer Entscheidung des Oberlandesgerichts Jena hervor.

Dem Fall lag folgender Sachverhalt zugrunde: Im Juli 2008 stürzte eine geistig behinderte Person während des Toilettengangs aus einem Fenster im 1. Stock einer Pflegeinrichtung. Bei der Einrichtung handelte es sich um ein "offenes" Haus mit Wohngruppen. Zielrichtung der Unterbringung war die Hilfe zur Selbsthilfe, sowohl im privaten Lebensraum als auch bei der Teilnahme am öffentlichen Leben. Durch die Betreuung und heilpädagogische Förderung sollten vor allem die Eigenständigkeit im lebenspraktischen Bereich und die Sozialkompetenz verbessert werden. So befand sich die verunfallte Person vor allem wegen ihrer mangelnden hygienischen Sorgfalt in der Einrichtung. Sie bedurfte bei der Körperpflege regelmäßig der Anleitung und der Teilbeaufsichtigung. Die Kranken- und Pflegeversicherung der verunfallten Person machten für den Fenstersturz den Heimbetreiber verantwortlich und klagten auf Zahlung von Schadensersatz.

Landgericht gab Schadensersatzklage statt Das Landgericht Meiningen gab der Schadensersatzklage statt. Zwar habe der beklagte Heimbetreiber keine Nebenpflicht aus dem Heimvertrag verletzt. Jedoch sei ihm eine Verletzung der Verkehrssicherungspflicht anzulasten, weil er das Fenster nicht ausreichend gesichert habe. Gegen diese Entscheidung richtete sich die Berufung des Beklagten.

Oberlandesgericht verneint Haftung des Heimbetreibers Das Oberlandesgericht Jena entschied zu Gunsten des Beklagten und hob daher die Entscheidung des Landgerichts auf. Zwar hafte ein Heimbetreiber für die schuldhafte Verletzung seiner Obhutspflicht. Dem Beklagten sei aber weder eine Verletzung einer vertraglichen Nebenpflicht noch eine Verkehrssicherungspflichtverletzung anzulasten.

Keine Verletzung einer vertraglichen Nebenpflicht Noch zutreffend verneinte das Landgericht die Verletzung einer vertraglichen Nebenpflicht, so das Oberlandesgericht. So habe die verunfallte Person allein und ohne Beaufsichtigung den Toilettengang durchführen dürfen. Denn ihr Gesundheitszustand habe zu diesem Zeitpunkt keine ständige Betreuung und Beaufsichtigung erfordert.

Keine Verletzung der Verkehrssicherungspflicht Nach Auffassung des Oberlandesgerichts habe der Beklagte aber nicht seine Verkehrssicherungspflicht verletzt. Eine Sicherung des Fensters sei mit der Zielrichtung der Pflegeeinrichtung nicht vereinbar gewesen. Zwar habe ein Sachverständiger im Rahmen des Prozesses eine geschlossene Unterbringung der verunfallten Person für notwendig erachtet. Jedoch könne nicht auf die Sicht eines Facharztes für Psychiatrie abgestellt werden. Es komme vielmehr auf die Erkenntnismöglichkeiten der fachlich ordnungsgemäß besetzten, gut organisierten Pflegeinrichtung an. Für diese habe keinerlei Hinweise einer Selbstgefährdung bestanden. Ohnehin würde es der Zielsetzung der Einrichtung entgegenlaufen, wenn man die betreuten Heimbewohner bei jedem auch nur geringen Verdacht einer Selbst- oder Fremdgefährdung sofort in eine geschlossene Einrichtung unterbringen würde. Dies widerspreche dem grundrechtlich geschützten Recht der behinderten Menschen auf weitestmöglicher Autonomie.

Angaben zum Gericht:

  • Gericht:Oberlandesgericht Jena
  • Entscheidungsart:Urteil
  • Datum:27.08.2015
  • Aktenzeichen:1 U 558/14

Oberlandesgericht Jena, ra-online (zt/NJW-RR 2016, 273/rb)