BVerfG: Familiengericht muss von Jugendamt und Verfahrensbeistand abweichende Entscheidung zum Vorliegen einer Kindewohlgefährdung nachvollziehbar begründen

Will das Familiengericht von der Einschätzung des Jugendamts und des Verfahrensbeistandes zum Vorliegen einer Kindeswohlgefährdung abweichen, so muss es die gegenläufige Entscheidung nachvollziehbar begründen. Dies hat das Bundesverfassungsgericht entschieden.

Dem Fall lag folgender Sachverhalt zugrunde: Im Oktober 2019 wurde in Brandenburg ein fünfjähriges Kind aus der Pflegefamilie genommen, da bekannt wurde, dass der Pflegevater wegen Besitzes kinderpornografischer Bilder und Videos zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurde. Die Pflegemutter beantragte nachfolgend die Rückführung des Kindes in ihrem Haushalt. Sie führte an, sich vom Pflegevater getrennt zu haben. Das Jugendamt und die Verfahrensbeiständin gingen dennoch weiterhin von einer Kindeswohlgefährdung aus, sollte das Kind zur Pflegemutter zurückkehren. Das Oberlandesgericht Brandenburg teilte die Einschätzung ohne nähere Begründung nicht und ordnete die Rückführung des Kindes an. Dagegen richtete sich die Verfassungsbeschwerde des Amtsvormundes.

Rückführung des Kindes stellt Grundrechtsverletzung dar Das Bundesverfassungsgericht hob die Entscheidung des Oberlandesgerichts auf und wies den Fall zur Neuverhandlung zurück. Die Entscheidung des Oberlandesgerichts verletze das Kind in seinem Recht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG in Verbindung mit 6 Abs. 2 Satz 2 GG.

Unzureichende Begründung der abweichenden Entscheidung zur Kindeswohlgefährdung Hält das Familiengericht eine Trennung des Kindes von den (Pflege-) Eltern für nicht erforderlich, obwohl Anhaltspunkte dafür bestehen, dass das Kind bei einem Verbleiben in der (Pflege-) Familie oder bei einer Rückkehr dorthin in seinem körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl nachhaltig gefährdet wird, so müsse das Gericht nachvollziehbar begründen, warum eine solche Gefahr für das Wohl des Kindes nicht vorliegt. Diese Begründungspflicht gelte insbesondere dann, wenn das Gericht der Einschätzung der Sachverständigen oder der beteiligten Fachkräfte zum Vorliegen einer Kindeswohlgefährdung nicht folgt. Das Abweichen von den gegenläufigen Einschätzungen der fachkundigen Personen bedürfe eingehender Begründung. Daran fehle es hier.

Fehlende Auseinandersetzung mit eine Kindeswohlgefährdung begründenden Anhaltspunkten Das Oberlandesgericht habe sich nicht mit den Umstand auseinandergesetzt, so das Bundesverfassungsgericht, dass die Pflegemutter versucht hat, die Taten ihres Ehemanns zu verheimlichen bzw. zu verharmlosen. Die Pflegemutter hatte die von ihrem Ehemann ausgehende Missbrauchsgefahr nicht anerkannt. Daher seien Zweifel daran, ob sie bereit sei, langfristige Maßnahmen zum Schutz des Kindes zu ergreifen, angebracht gewesen. Unberücksichtigt sei ebenso geblieben, dass Zweifel an der endgültigen Beendigung der Beziehung der Pflegeeltern bestehen und dass der Pflegevater in der Nähe der Wohnung der Pflegemutter wohnt und somit Besuche oder zufällige Begegnungen zu befürchten sind. Das Oberlandesgericht ließ schließlich die Äußerung der Pflegemutter außer Betracht, wonach sie nicht wisse, wie sie das Leben mit Kind ohne den Pflegevater finanzieren könne und ob sie der Betreuung des Kindes als Alleinerziehende gewachsen sei.

Angaben zum Gericht:

  • Gericht:Bundesverfassungsgericht
  • Entscheidungsart:Beschluss
  • Datum:12.02.2021
  • Aktenzeichen:1 BvR 1780/20

Bundesverfassungsgericht, ra-online (vt/rb)