Aus Italien nach Deutschland weitergereiste Schutzberechtigte oder Asylsuchende dürfen nicht nach Italien rücküberstellt werden

Die Asylanträge eines in Italien anerkannten Schutzberechtigten aus Somalia und eines Asylsuchenden aus Mali, der zuvor in Italien einen Asylantrag gestellt hatte, dürfen nicht als unzulässig abgelehnt werden, weil die ernsthafte Gefahr besteht, dass sie im Falle ihrer Rücküberstellung dorthin ihre elementarsten Bedürfnisse für einen längeren Zeitraum nicht befriedigen können. Das hat das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen durch zwei bekannt gegebene Urteile entschieden.

In den hier vorliegenden Fällen hatte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge den Asylantrag des Somaliers als unzulässig abgelehnt, weil er in Italien bereits internationalen Schutz erhalten hatte. Das Verwaltungsgericht Münster hatte die Klage des Somaliers mit der Begründung abgewiesen, international Schutzberechtigte hätten in Italien das Recht, für sechs Monate in Aufnahmeeinrichtungen zu wohnen; ferner hätten sie dort Zugang zu Sozialwohnungen, zum Arbeitsmarkt und zu Sozialleistungen. Dem Kläger, der gesund, jung und arbeitsfähig sei, drohe in Italien selbst für den Fall einer fehlenden staatlichen Unterstützung keine Situation extremer materieller Not, vielmehr sei es ihm zuzumuten, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen und selbst für seinen Lebensunterhalt zu sorgen.
Auch Asylantrag des Maliers mit Hinweis auf Verfahren in Italien als unzulässig abgelehnt
Der Asylantrag des Maliers war als unzulässig abgelehnt worden, weil er schon in Italien einen Asylantrag gestellt hatte und sein Asylverfahren wegen der Zuständigkeit Italiens dort weiter zu betreiben sei. Das Verwaltungsgericht Minden hatte der Klage des Maliers stattgegeben und zur Begründung ausgeführt, dem Kläger sei in Italien in einem standardisierten und regelmäßig durchgeführten Verfahren das Recht auf Unterkunft entzogen worden; er verfüge weder über ausreichende Geldmittel zur Bestreitung seines Lebensunterhalts noch über Bekannte in Italien, die ihn unterstützen könnten, er werde in Italien auch keinen Arbeitsplatz finden, der ihm ein ausreichendes Einkommen zur Finanzierung einer menschenwürdigen Unterkunft und des unabdingbar zum Überleben Erforderlichen verschaffe.
OVG: Keine Rücküberstellung wegen drohender Gefahr extremer materieller Not
Die Berufung des Somaliers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Münster hatte Erfolg; die Berufung der beklagten Bundesrepublik Deutschland gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Minden blieb hingegen ohne Erfolg. Zur Begründung seiner beiden Urteile hat das Oberverwaltungsgericht ausgeführt: Die Asylanträge der Kläger können nicht als unzulässig abgelehnt werden, weil ihnen für den Fall ihrer Rücküberstellung nach Italien die ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung droht. Denn die Kläger geraten in Italien unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in eine Situation extremer materieller Not, weil sie dort für einen längeren Zeitraum weder eine Unterkunft noch eine Arbeit finden. Beide Kläger haben für den Fall ihrer Rückkehr nach Italien keinen Zugang zu einer Aufnahmeeinrichtung und einer damit verbundenen Versorgung. Ihnen steht in Italien kein Recht mehr auf Unterbringung zu.
Gefahr besteht trotz Reform des Salvini-Dekret weiter
Zwar ist das sog. Salvini-Dekret aus dem Jahr 2018, mit dem die Rechte von Asylsuchenden und Schutzberechtigten in Italien eingeschränkt worden sind, im Dezember 2020 reformiert worden. Die Vorschriften, die den Verlust des Rechts auf Unterbringung in einer Aufnahmeeinrichtung regeln und die von den italienischen Behörden innerhalb von vier Jahren in mindestens 100.000 Fällen von Asylsuchenden und Schutzberechtigten angewendet worden sind, gelten aber trotz der Reform fort. Ausgehend von diesen hohen Fallzahlen und angesichts der Umstände der Einzelfälle der Kläger ist das Oberverwaltungsgericht davon überzeugt, dass ihnen das Recht auf Unterbringung in Italien entzogen worden ist. Die Kläger weisen auch - anders als etwa Kranke oder Familien mit minderjährigen Kindern - keine besonderen Vulnerabilitätsmerkmale auf, die italienische Behörden veranlassen könnten, ihnen ausnahmsweise doch eine Unterkunft in einer Einrichtung des italienischen Aufnahmesystems zu gewähren. Andere Unterkünfte oder Wohnungen stehen nicht zur Verfügung oder sind von den mittellosen Klägern nicht finanzierbar. Obdachlosen- oder Notunterkünfte sind nicht in ausreichen-dem Maß vorhanden, außerdem bieten diese nur temporäre Schlafplätze, nicht aber eine Versorgung.
Mindestaufenthaltszeiten für Sozialleistungen nicht erfüllt
Mit Blick auf die derzeitige Arbeitsmarktsituation und Wirtschaftslage finden die Kläger im Falle ihrer Rückkehr dort auch keine Arbeit. Die Arbeitslosenquote liegt in Italien derzeit bei ca. 10 %; insbesondere die Jugendarbeitslosigkeit von mehr als 33 % führt für die noch jungen Kläger dazu, dass sie keine Arbeit finden können, die sie in die Lage versetzt, für ihren Lebensunterhalt selbst zu sorgen. Der Zugang der Kläger zum Arbeitsmarkt wird zudem durch die mangelnde Beherrschung der italienischen Sprache und das Fehlen einer spezifischen beruflichen Qualifikation zusätzlich erschwert. Sozialleistungen und Sozialwohnungen werden Schutzberechtigten - wie dem Kläger aus Somalia - zwar gewährt; dies gilt aber in der Regel nur nach Mindestaufenthaltszeiten von mehreren Jahren in Italien, die Schutzberechtigte - wie auch der Somalier - regelmäßig nicht erfüllen können.

    Angaben zum Gericht:

    • Gericht:Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
    • Entscheidungsart:Urteil
    • Datum:20.07.2021
    • Aktenzeichen:11 A 1674/20.A und 11 A 1689/20.A

    Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen, ra-online (pm/ab)